Mittwoch, 26. Februar 2014

Über das neue eBook „Analytische Belletristik“

Aktuell streiten sich in ZEIT, FAZ, und SZ Schriftsteller über den Buchmarkt, über konventionell gewordene Literatur und ihre Gründe, führen behütete Milieus junger Schriftsteller an, die Beharrung auf deutschen Lesegewohnheiten durch den Literaturbetrieb gegenüber Migranten, auf einen mysteriös belassenen gesellschaftlichen Zusammenhang … Doch all dies bleibt weit zurück hinter einer grundlegenden Kritik, die Mark Ammern einleitend in der von ihm herausgegebenen „Analytischen Belletristik“ formuliert: in Kritik gerät der Literaturbetrieb als industrieller Komplex, der an Literatur zunehmend das Interesse verloren hat, Marktgängigkeit und Konsum in das Zentrum stellt, weit davon entfernt, literarische Kunst anbieten zu wollen. Dem gegenüber wird auf „individuelle Zugänge“ von Schriftstellern zur Literatur samt einiger Ausnahmen verwiesen.
Bei den Texten des Bandes handelt es sich nicht um wissenschaftliche oder philosophische, sondern um literarische Essays, denen gleichwohl eine analytische Haltung zugrunde liegt. Deshalb finde ich die Publikation besonders interessant.


… mit Bezug auf Sprache


Wenn der Literaturbetrieb im großen Umfang betroffen ist, dann auch Kritik und Literaturwissenschaft. Ich folge nicht dem Aufbau des Buches, nach Ammerns Einleitung ist Kathrina Talmis Essay „Jenseits des Absoluten“ zu finden, in dem künstlerische Autonomie und Angemessenheit als Kriterien vorgeschlagen werden, sondern aus der Position eines Rezipienten, der mit sprachlichen Produkten konfrontiert wird. Reinhard Matern macht in „Deformation, Dekonstruktion und Analyse“ darauf aufmerksam, dass es Rezipienten schwerfallen kann, überhaupt auf Literatur Bezug zu nehmen, weil dies ihre sprachtheoretischen Annahmen gar nicht ermöglichen! Dies fällt besonders bei Derrida auf, der im Rahmen seiner Zeichentheorie lediglich Worte und Bedeutungen anführt. Dieser besondere Mangel, so Matern, mache es leicht, Worte und Gegenständlichkeiten, ob wirkliche oder imaginäre, zu verwechseln, der Sprache Eigenschaften zukommen zu lassen, die einer sozialen Welt des Handelns entlehnt sind, aber mit Sprache nichts zu tun haben. Eine unzureichende Differenzierung von Sprache und Gegenständlichkeiten sieht er auch in Friedrichs Erörterung spätromantischer Lyrik, die er zuvor thematisiert hatte. Wirklichkeit wird nach Friedrichs deformiert, obgleich eine dichterische Sprache Gegenständlichkeiten überhaupt nichts anhaben kann. Matern plädiert dafür, sich zunächst die Möglichkeit zu schaffen, überhaupt als Rezipient auftreten zu können und schlägt die analytische Sprachphilosophie als geeigneten Kontext vor.


Schönheit versus Angemessenheit


Kant hatte in seiner „Kritik der Urteilskraft“ auch Geschmacksurteile thematisiert. Weil im Literaturbetrieb als auch unter Rezipienten immer mal wieder von Geschmack die Rede ist, Ammern hebt dies in seiner Einleitung hervor, ist es unumgänglich, die Möglichkeiten für solche Phrasen auszuloten. Nach Kathrina Talmi („Jenseits vom Absoluten“) verliert sich das Gerede empirisch in unzählige Worte schön, denen allenfalls psychologisch nachzukommen wäre, Ammern wendet sich Kant direkt zu und erläutert im Rahmen einer geschaffenen experimentellen Laborsituation, dass durch begrifflos Schönes nicht einmal Form berücksichtigt werden könnte, lediglich ein glucksendes Wonnegefühl, das dem von Babys ähneln könnte.
Um diesem desolaten Mangel zu entgehen, schlägt Talmi die bislang primär durch Wissenschaft und Philosophie bekannte Frage nach Angemessenheit vor und führt in diesem Kontext vorhandene als mögliche Relationen an, die für ein Kunstwerk relevant sein können, innere als auch äußere. Das Wort Angessenheit wird in der gesamten Publiktion jedoch nicht definiert. Beurteilungen bleiben persönliche Einschätzungen, jedoch innerhalb von Zusammenhängen und Kontexten. Talmi setzt einen besonderen Akzent auf die Offenheit von Angemessenheit, weil die jeweiligen Produkte als Ausgang dienen, um Relationen beurteilen zu können. Eine Frage nach Angemessenheit kann sich vielen künstlerischen Richtungen gebenüber bewähren, weil sie diese ernst nimmt. Um jedoch ein „hermeneutisches Geschwätz“ zu vermeiden, hebt Matern die Möglichkeit zu Vergleichen hervor, zu „analytisch bedingte(n)“.


Künstlerische Autonomie und Angemessenheit


Künste können sich nur entwicklen, wenn Neues gewagt wird. Dazu bedarf es jedoch künstlerischer Autonomie. Ohne eine solche Freiheit verfällt eine Kunst in Kunsthandwerk, das sich hervorragend industieller Produktionsweisen bedienen kann. Talmi als auch Ammern fordern zu künstlerischer Autonomie heraus, um einem gesellschaftlich entstandenen Einerlei zu entkommen. Talmi betont den künstlerischen Preis, „Schweiß und Tränen“, Ammern verweist historisch auf Dada, Pop-Art und Aktionskunst, um die Tragweite von autonomem Handeln und möglicher Angemessenheit anzuführen.

Literarische Angemessenheit wird in zwei Gesprächen und Ammerns Essay „Wer erzählt - warum - und für wen?“ thematisiert. Ammerns Anliegen ist es, einen gottgleichen Erzähler der Theologie zuzuschieben, gleichwohl sieht er die Möglichkeit für einen erzählenden Konstrukteur, der allerdings, wenn er nicht literarisch ausgebildet ist, nur mit dem Autor zusammenfallen kann! Alles andere würde von außen eine Fantasie überstülpen, die mit dem Text nichts zu tun hat. Über eine Stärkung des Erzählers hinaus verweist Ammern sogar auf die Schaffung eines Micro-Umfelds, wie es literarisch in alten Sammlungen oder in Novellen ausgebildet wurde, das mögliche Hörer / Leser integriert. Wie dies in zeitgenössischer Weise machbar ist, muss freilich den jeweiligen Schriftstellern überlassen bleiben.
Das Gespräch „Das Dilemma der Literaturkritik“, an dem Matern und sein Erzähler, Talmi als auch Ammern beteiligt sind, nimmt den Bachmannpreis 2013 zum Anlass, um sich über die Rolle von Kritikern, über Literatur und ein letztlich zentrales Problem auszutauschen: Gegen Ende des Gesprächs gerät eine schriftstellerische Wirklichkeit in Gegensatz zu Formansprüchen der Kritik. Es handelt sich um eine Unverhältnismäßigkeit der Kritik.
Fast zum Abschluss des Bandes, im zweiten Gespräch (Talmi, Matern, Ammern), betitelt mit „Literarische Angemessenheit“, wird Bernhards Kritik eines traditionellen Kunstbegriffes aufgegriffen und weitergetrieben: Talmi bezeichnet ihn als „platonische Idee“ und verwirft die Ansprüche an Vollkommenheit, Vollständigkeit usw., um der Literatur wieder Leben einzuhauchen. Dies kann auch dazu führen, dass Ammerns Hang zur schreibenden Improvisation Geltung erhält, auch wenn sie betont, dass sie eine von Ammern gebaute Brücke nicht betreten würde.

Analytische Belletristik.
Essays und Gespräche.
Hg.: Mark Ammern
ISBN 9783929899115 (ePub)
ISBN 9783929899153 (Kindle KF8)
€ 4,99
Erscheinungsdatum: 28.02.2014
AutorenVerlag Matern